Digitalisierung in der Sozialwirtschaft

Die Fragen stellte Antje Borchers von der Ecclesia Gruppe, Detmold
unserer Vorständin Sarah Theune  

Ob Digitalisierung in der Sozialwirtschaft überhaupt eine Rolle spielt, darüber diskutiert heute niemand mehr. Die Fragen lauten: Wie können wir sie umsetzen? Was bedeutet das für uns? Wie können wir unsere begrenzten Ressourcen einsetzen? Sarah Theune vom Verband für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft (vediso) beschreibt im Interview, welches Potenzial in den digitalen Technologien für die Menschen steckt.


Der Verband vediso spricht von „sozialer Digitalisierung“, was ist damit gemeint?

Sarah Theune: „Soziale Digitalisierung“ behält im Blick, dass wir am Ende einen Nutzen stiften müssen fr die Menschen – also einerseits für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und andererseits für die Betreuten und Pflegebedürftigen. Wir stellen uns immer die Frage: Welchen Zweck verfolgen wir mit der Digitalisierung an dieser Stelle?

Auch wegen begrenzter finanzieller Ressourcen müssen wir uns oft entscheiden zwischen verschiedenen Optionen bei der konkreten Ausgestaltung. Mit der Digitalisierung wollen wir zum Beispiel Verwaltungsabläufe effizienter aufstellen. Eine andere Ausgestaltung ist eine Plattform, über die wir unsere Leistungen anbieten können. Denn eine wichtige Frage lautet: Wie erreichen wir unsere Klienten, zum Beispiel die Menschen mit Pflegebedarf, auch in ihren digitalen Lebenswelten? Das Konsumverhalten hat sich verändert, die Menschen bewegen sich viel mehr im Internet, darauf müssen auch wir eingehen. Wir wollen dabei unterstützen, dass zum Beispiel Menschen auf der Suche nach einem Heimplatz den entsprechenden Anbieter finden – und zwar an einem Sonntagabend, dann, wenn sie im Internet surfen.


Als zweites sprechen Sie von „nachhaltiger Digitalisierung“, was meinen Sie damit?

Sarah Theune: Es geht darum, uns auf Digitalisierungsbemühungen zu konzentrieren, die tatsächlich einen Nutzen stiften. Ein Beispiel: Es gibt Unternehmen, die mit einer klassischen Urlaubskarte arbeiten, auf DIN A5, die macht lange Wege durch die Hauspost, geht schon mal verloren, kommt irgendwann wieder zurück zum Mitarbeitenden. Wenn diese Urlaubskarte digitalisiert wird, stellt sich die Frage: Ist das Ergebnis wirklich besser, zeitsparender? Oder sollen wir nicht lieber woanders investieren, zum Beispiel Besuche im Altenheim per Video ermöglichen, gerade in Corona-Zeiten. Das bedeutet, nachhaltig im sozialen Umfeld zu investieren.

Es ist naheliegend, die einfachen Prozesse zu digitalisieren, anstatt sich an die großen Themen heranzuwagen, die einen echten Nutzen für diejenigen Menschen erzielen, fьr die wir in der Wohlfahrtspflege und Sozialwirtschaft Verantwortung übernehmen. Wir als vediso fragen uns, wo wir unseren Auftrag bei der Begleitung der Digitalisierung sehen. Es gibt in vielen Bereichen schon Standardlösungen, da müssen wir nicht auch noch etwas erfinden. Darum wollen wir uns fьr den sozialen Bereich auf soziale und nachhaltige Digitalisierung konzentrieren. Digitalisierung darf nicht zum Selbstzweck werden, sondern muss sich immer daran messen lassen, ob sie hilft, die Situation für Menschen mit einem Unterstützungsbedarf zu verbessern.


Ihr Verband hat sich vor drei Jahren gegründet, um die Unternehmen bei der Digitalisierung zu unterstützen. Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie für die Sozialwirtschaft?

Sarah Theune: Die liegen in der Refinanzierungslogik begründet. Soziale Einrichtungen haben wenig wirtschaftlichen Spielraum, in Forschung und Entwicklung zu investieren, was sonst ьblich ist.

Wenn es an die Digitalisierung von Prozessen geht, dann gibt es auch gewisse Hürden. Denn viele der Mitarbeitenden wollen ja mit Menschen zu tun haben, nicht mit Technik, deswegen haben sie einen sozialen Beruf gewählt. Es gibt nicht grundsätzlich Vorbehalte gegen Digitalisierung, aber einige Mitarbeitende brauchen deutlich mehr Begleitung beim Aufbau von technischem Know-how. Technik-Know-how war in der Vergangenheit nicht vorrangig gefordert. Als Verband möchten wir herausarbeiten, welchen Beitrag Digitalisierung leistet, um eine Situation zu verbessern. Das hilft den Mitarbeitenden, solche Veränderungen mitzugehen.


Beschreiben Sie bitte einmal, wie ein zukunftsfähiges Unternehmen der Sozialwirtschaft aussieht.

Sarah Theune: Da die Unternehmen so unterschiedlich gestaltet sind, lassen sich nur Elemente für zukunftsfähige Unternehmen benennen. Organisationen sind dann gut aufgestellt, wenn sie die Veränderungen durch die digitalisierte Welt verstanden haben:


  • Planungszyklen verkürzen sich.

  • Die Wünsche und Bedarfe der Menschen verändern sich und diese Veränderungen schlagen sich auch in den Gesetzen nieder. Zum Beispiel sind die Leistungen des Bundesteilhabegesetzes nicht mehr in vorgefertigten Bündeln abzurufen, sondern müssen modular, freier zusammengestellt werden; das stößt auf Zustimmung der Betroffenen.

  • Als Leistungsanbieter ist man mit anderer Nachfrage konfrontiert.

  • Menschen möchten online Kontakt aufnehmen, zum Beispiel über eine Plattform. Sie kennen solche Plattformen von der Urlaubsbuchung, vom Bücherkauf, vom Modeshopping … Nur bei den sozialen Dienstleistern muss man plötzlich über Papier oder Telefon in Kontakt treten, weil man seine Nachfrage noch nicht auf digitalem Weg befriedigen kann.



Wie sieht die Begleitung der Mitgliedsorganisationen konkret aus?

Sarah Theune: Wir veranstalten zum Beispiel Workshops, in denen eine Einrichtung lernen kann, wie sie aufgestellt sein muss, um eine Plattform zu bestücken: Wie können da die Schnittstellen aussehen und welche organisatorische Prozessgestaltung ist hilfreich?


Zweimal im Monat bieten wir Peer-to-Peer-Calls an. An festen Terminen finden sich die Verantwortlichen der Einrichtungen zu einem Austausch per Videokonferenz zusammen. Sie reden über Themen, die sie gerade beschäftigen, und hören voneinander, was sich bewährt hat, wie andere das geregelt haben, und können dann zu individuellen Lösungen kommen.

 

Welche Themen beschäftigen denn die Einrichtungen?

Sarah Theune: Das ist völlig unterschiedlich. Teilweise geht es um ethische Fragen wie „Soll man Sensoren in Seniorenhaushalten einbauen, die Kameras haben und Menschen überwachen können?“ Es gibt zum Beispiel Bewegungsmelder für den Flur, die eine Meldung an eine Nachtwache aussenden, sobald jemand nicht von der Toilette zurückkommt. Diese technischen Möglichkeiten bieten große Chancen, aber es stellen sich auch Fragen hinsichtlich Datenschutz und Schutz der Persönlichkeitsrechte. Oder: Welche Einwilligungen müssen bei Demenzkranken vorliegen? Was darf man, was ist sinnvoll?  Manchmal sind es aber auch technische Fragen. Wie kann man zum Beispiel das Thema E-Mail-Verschlüsselung gut anfangen?

Eine große Herausforderung ist das Thema Datenschutz und Datensicherheit, denn viele Einrichtungen gehen mit Gesundheitsdaten um, die besonders sorgfältig behandelt werden müssen. Abgesehen von der europäischen Datenschutz-Grundverordnung gibt es zusätzlich kirchliche Datenschutzgesetze.

Das Potential der Digitalisierung für die Sozialwirtschaft ist riesig – unsere Mitglieder wollen das aktiv mit- und ausgestalten.

 

Wie weit sind die Unternehmen mit der Digitalisierung?

Sarah Theune: Da zeigt sich ein heterogenes Bild. Die verschiedenen Unternehmen stehen an unterschiedlichsten Punkten. Ein kleines Unternehmen hat andere Herausforderungen als ein großes mit mehr als 1000 Beschäftigten. Die meisten sind auf mehreren Ebenen unterwegs. Allem voran ist eine solide Infrastruktur notwendig. Das beginnt mit einer stabilen Internetverbindung und ausreichend Bandbreite für die Datenübertragung, damit Unternehmen beispielsweise bei digitalen Videokonferenzen überhaupt dabei sein können oder ihre Angebote über die Plattformen anbieten können. Die Räume müssen technisch entsprechend ausgestattet sein, mit WLAN zum Beispiel. Das ist auch für die elektronische Dokumentation sinnvoll, denn dann könnte man die aus dem Stationszimmer rauslösen.

Weitere Themen sind die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen oder auch der Aufbau von E-Learning-Systemen. Immer mehr Organisationen sehen Chancen darin, ihre Mitarbeitenden digital beim Aufbau von Wissen und Know-how zu unterstützen. Andere Träger denken über neue digitale Geschäftsmodelle nach: Sie wollen auf Plattformen ihre Leistungen einfacher verfügbar machen. Dazu gehört dann auch die Überlegung, wie wir soziale Arbeit, soziale Dienstleistungen in der Zukunft so organisieren, dass sie noch besser und flexibler zu den Menschen passen, die einen Unterstützungsbedarf haben.

 

Können Sie weitere Mitglieder verkraften oder sind Sie bereits an den Grenzen Ihrer Kapazitäten angekommen?

Sarah Theune: Mehr Mitglieder sind gut für alle. Denn alle können stark voneinander profitieren. Je mehr Einrichtungen mit ihren Erfahrungen dabei sind und ihre Lösungen im Austausch vorstellen, umso besser für die anderen. Als Verband sind wir die Mittler der guten Lösungen, die Experten sitzen in den Häusern. Und die können wir zusammenbringen. Digital haben wir da sehr viele Möglichkeiten, das lernen wir alle ja zurzeit unter den Corona-Bedingungen. Wir können sehr dynamisch in unseren Angeboten agieren. Beispielsweise haben wir gerade das eine Thema abgeschlossen, da können wir zum akuten Bedarf passend schon wieder ein neues anbieten. Wir stehen bereit – mit stets offenem Ohr und der Frage: „Wo können wir euch helfen?“

Wenn wir viele Mitglieder haben, können wir natürlich auch mit Gewicht bei der strategischen politischen Arbeit auftreten, zum Beispiel beim Thema künstliche Intelligenz in der Pflege: Wie sollten da die Rahmenbedingungen aussehen, damit die Einrichtungen das in ihrer Praxis anwenden können? In der politischen Diskussion Standpunkte zu vertreten, ist eine wichtige Aufgabe des vediso.

 

Aus der Zeitschrift „Informationsdienst“, Ausgabe Dezember/2020, der Ecclesia Gruppe   antje.borchers@ecclesia-gruppe.de